#OUT 100 - 100 KM Trail Running Team Project (incl. Video)
“Wären die anderen nicht hier - ich würde jetzt hinschmeißen”. Das war der immer wiederkehrende Gedanke, als ich mich mit gesenktem Kopf, Blick starr zwei Meter vor mir auf den Trail gerichtet, den Jochberg bei Reute hinauf schob. Weder die Hälfte an Kilometern, noch an Höhenmetern von unserem Versuch 100 KM am Stück zu laufen waren geschafft. Die anderen waren in diesem Fall meine Kumpels Jochen und Matze. Zusammen waren wir vor gut sieben Stunden in Oberammergau gestartet, mit dem Ziel als Team zum ersten Mal dreistellig zu laufen. Doch während sie scheinbar mühelos mit gleichmäßigen Schritten eine Spitzkehre nach der anderen hinter sich ließen, wurden meine Zweifel immer größer: “Was, wenn ich das Tempo nicht halten kann? Was, wenn ich abreißen lassen muss und die anderen enttäusche? Was, wenn Trail Running doch nicht als Teamsport funktioniert?”
Keine Rennen 2020? Kein Problem!
Motiviert von der Aussicht gemeinsam die “100k-Schallmauer” zu durchbrechen, standen wir am längsten Tag des Jahres um 3 Uhr Morgens vor dem Festspielhaus in Oberammergau. Der Ort im Tiefschlaf. Auf den Straßen kein Mensch. Außer unsere Crew. Im gelben Licht der Straßenlampen angespanntes Geflüster. Das achtköpfige Support-Team bemüht sich uns Mut zuzusprechen, während wir drei Läufer nervös an unseren Schuhen herumzupfen und zum dritten Mal den Laufrucksack abtasten. Niemand von uns ist je am Stück so weit gelaufen. Keiner von uns hatte sich je so eine anspruchsvolle Strecke vorgenommen.
Doch alles war genau so, wie wir uns das ausgedacht hatten. Nachdem Corona unser aller Leben auf den Kopf gestellt hatte und sämtliche Rennen aus dem Kalender geflogen waren, fing die Suche nach Alternativen an. Die Kontaktbeschränkungen waren nur wenige Tage alt, als das erste Mal die Idee aufkam: warum planen wir nicht unseren eigenen Ultra Trail?
Ein paar einsame Lockdown-Runs und Zoom-Konferenzen später wurde der Plan immer konkreter. Erstaunlich schnell einigten wir uns auf die Spielregeln: über 100 KM und 6.000 Höhenmeter (HM). Es muss ein logische Runde mit maximalem Trail-Anteil in den Münchner Hausbergen sein. Und: wir machen das als Team. Wir starten gemeinsam. Wir kommen gemeinsam an.
Start um 3 Uhr Nachts in Oberammergau.
Ohne Startschuss, dafür mit viel Erleichterung und Vorfreude ging es Schlag drei Uhr los. Erst flach und harmlos zum Kloster Ettal. Unsee Stirnlampen tanzten durch die Nacht und obwohl keiner von uns wirklich viel geschlafen hatte, sprangen die Gesprächsthemen nervös von einem zum nächsten. Ablenken und bloß nicht an das denken, was vor einem liegt war die Devise. Zumindest bei mir.
Bei leichtem Nieselregen vertrieb das erste Licht langsam die Nacht, als wir im oberen Drittel der Notkarspitze - dem ersten großen Gipfel der Runde - unterwegs waren. Die graue Wolkendecke hing tief und in der Ferne schimmerte der Starnberger See und Ammersee silbrig im Morgenlicht. “Perfektes Laufwetter”, dachte ich mir. Ohne stehen zu bleiben sammelten wir am Gipfel Philipp Reiter ein, der uns mit seiner Kamera die nächsten 10 KM über den Grad begleiten sollte. In bester Stimmung hakten wir Gipfel für Gipfel ab, bevor es schön flowig das erste Mal wieder ins Tal ging. Die Sonne brach mittlerweile durch die Wolkendecke und nach den ersten drei Gels waren wir froh im Tal das erste Mal auf unsere Crew zu treffen, um neues Wasser aufzufüllen.
Es folgte eine 16 KM lange Schotter-Autobahn. Mit Abstand der Teil der Runde, auf den wir uns am wenigsten gefreut hatten. Doch die Fahrradbegleitung durch Nico und Vicky machten diesen Abschnitt erstaunlich kurzweilig und so sprangen unsere Uhren kurz vor der ersten großen Verpflegungsstation auf die 40 KM.
Es wird ernst. Schneller als gedacht.
Wasser auffüllen. Ein paar Nudeln und Kartoffeln essen. Sonnencreme auftragen und schon ging es weiter. Die Strecke Richtung Reute war landschaftlich absolutes Neuland für uns. Aber so richtig genießen konnte ich es nicht. Liefen die ersten 5 Stunden noch recht flüssig, wurde jetzt das Vorankommen deutlich zäher. Spätestens im Aufstieg zum Jochberg wurde deutlich, dass das eine richtig harte Nummer wird. Während die anderen vorweg marschierten, kämpfte ich zunehmend den Anschluss zu halten. Alles fühlte sich ungewohnt schwer und träge an. Mir fehlte das Gefühl für den Trail. Ich war nicht im Moment.
Vielleicht war es Arbeitsstress. Vielleicht Fehler bei der Verpflegung. Vielleicht aber auch einfach nur ein schlechter Tag. Als der nächste Gipfel in Sichtweite kam, versuchte ich die Selbstzweifel beiseite zu schieben. Immerhin hatten wir bereits 3.000 Höhenmeter geschafft und auch bei den Kilometern hatten wir bereits mehr als die Hälfte auf der Uhr stehen. Zusammen nahmen wir den 1.000 HM Downhill Richtung Schloss Neuschwanstein in Angriff. Dass unsere Routenplanung nur zu 95% perfekt war, zeigte sich jetzt: statt entspannt ins Tal zu joggen, mussten wir auf halber Höhe einen Hang traversieren und uns dabei 5 KM einen mehr oder weniger zugewachsenen Pfad entlang kämpfen. Auf der Karte hatte das einfacher ausgesehen.
Speicher ein letztes mal am Schloss Neuschwanstein auffüllen.
Entsprechend erledigt und leicht hinter unserem Zeitplan stießen wir am Schloss Neuschwanstein wieder auf unser Team. Erst mal Pause. Essen. Socken wechseln. Neues Shirt anziehen. Nico, Philipp und Caro stiegen jetzt ins Geschehen ein. 40 KM mit 2.700 HM langen noch vor uns. Mit vermeintlich aufgefüllten Speichern ging es nun zu siebt die Skipiste am Tegelberg hoch. Aufgrund der - trotz Corona - erheblichen Touristenmassen entschieden wir uns spontan doch nicht über die Marienbrücke hinter dem Schloss zu laufen.
Es gibt Läufer, die drehen bei warmen Temperaturen erst richtig auf. Ich gehöre glaube ich zur anderen Gruppe. Am Tegelberg stand die Luft und die Sonne brannte uns ins Genick. Wir wussten, dass das Wetter wechseln würde, aber mit diesen extremen Schwankungen hatten wir nicht gerechnet und so kostete der Aufstieg mal wieder deutlich mehr Kraft als erhofft. Flüssig und geschmeidig waren unsere Bewegungen längst nicht mehr.
Das Wetter schlägt um.
Ich weiß nicht, ob niemand von uns die schwarzen Wolken realisiert hatte, oder ob wir sie alle einfach ignoriert haben. Keine zwei Stunden, nachdem wir bei größter MIttagshitze den “Rückweg” nach Oberammergau starteten, fing es an zu regnen. Diesmal richtig. Und der technisch schwierigste Abschnitt mit der Hochplatte - dem höchsten Punkt der Strecke - lag nun direkt vor uns. Dieser Gipfel sollte bei KM 80 der landschaftliche Höhepunkt der Runde darstellen. Genießen konnte wir ihn nicht. Der Wind war inzwischen empfindlich kalt, der Nebel verhinderte eine Sicht über die nächsten 20 Meter hinaus und der nasse Fels forderte die volle Aufmerksamkeit.
Was ich gelernt habe: Suppe macht alles wieder besser! 18 KM vor dem Ziel trafen wir ein letztes Mal auf unsere Crew und ich hätte nicht gedacht, wie gut warme Nudelsuppe tun kann. Bevor wir komplett auskühlten verabschiedeten wir uns wieder und machten uns auf den letzten Abschnitt des Projekts. Es war später Nachmittag. Seit Stunden hatten wir keine anderen Wanderer mehr getroffen und gefühlt waren wir weit und breit die einzigen Menschen. Der Regen ließ nach und auch die Trails wurden wieder “laufbarer”. Auch wenn schon lang kaum mehr an Laufen zu denken war. Und es zog sich. Zudem stellten sich uns immer wieder extrem steile Gipfel mit kleinen Klettereien in den Weg. Du kannst dir ja vorstellen wie geil das ist: über 80 KM in den Beinen, müde, kalt und dann sollst du durch einen Kamin mit bröckeligem Fels 5 Meter absteigen! Dass wir nicht im Hellen ankommen würden, war zu diesem Zeitpunkt bereits klar. Als die Sonne unterging waren es immer noch mehr als 10 Kilometer.
Im Dunkeln Richtung Ziel. Drei Stunden später als gedacht.
Kurz vor dem Pürschlinghaus schalteten wir wieder unsere Stirnlampen ein und es ging in den letzten zähen Downhill. Die Lichter von Oberammergau lagen direkt unter uns. Näher schienen sie jedoch nicht zu kommen. Geredet wurde nur noch wenig. Jeder war am Kämpfen. Auch das Pacer-Team. Immerhin hatten wir Schloss Neuschwanstein vor über 7 Stunden verlassen. Mit dem Erreichen der ersten Häuser sammelte jeder von uns nochmals seine letzten Kräfte. Jetzt noch kurz dem Fluss entlang, dann über die Brücke und dann sind es noch genau 500 Meter bis zum Festspielhaus.
Nach genau 19 Stunden und 45 Minuten war es geschafft. 104 Kilometer und 6.125 Höhenmeter. Fix und fertig versuchten wir zu realisieren, was wir geschafft hatten. Und wenn bis hierher noch nicht klar war, dass wir die beste Crew der Welt haben, dann stand es jetzt fest: obwohl es kurz vor 23 Uhr war und wir gute drei Stunden über unserer Zielzeit langen, warteten sie mit Pizza und Getränken auf uns. Wahnsinn. Wir hatten es geschafft. Die ganze Runde. Als Team.