Daniel Keppler mit dem 2. Platz beim Großglockner Ultra Trail 2022: der Rennbericht

Daniel Keppler, Zieleinlauf Großglockner Ultra Trail 2022

Im Ziel. Platz 2. Was war das bitteschön für ein verrücktes Finish? (C) Wisthaler

Großglockner Ultra Trail 2022 - was war da los?! 110 Kilometer, 6.600 Höhenmeter. Einmal um den höchsten Berg Österreichs. Mein Saisonhighlight. Auch bei guten Bedingungen, ein echtes Brett. Der Ultra Trail gilt als einer der anspruchsvollsten Wettkämpfe der Alpen. Auch deswegen habe ich ihn mir als mein erstes 100 KM Rennen ausgesucht. Ob ich erwartet hätte, dass sich das Ganze dann so entwickelt? Ganz sicher nicht. Hier mein Rennbericht.

Am Start des Großglockner Ultra Trail

Am Start. Keiner der Läufer*innen ahnt - mich eingeschlossen - was in den nächsten Stunden passieren wird. (C) Philipp Reiter

Eine Nacht, die ich nie vergessen werde

Start ist um 22:00 Uhr in Kaprun. Es war angekündigt, aber wahrscheinlich hatten wir alle darauf gehofft, dass es zumindest nicht schon am Start regnet. Dieser Wunsch wurde nicht erfüllt. Doch ich war einfach nur froh, dass es an diesem Freitagabend unter dem Zielbogen am Dorfplatz überhaupt losging. Je näher das Rennen in den letzten Tagen gerückt ist, desto sicherer war ich mir, dass aufgrund der schlechten Wetterprognose nicht die Originalstrecke gelaufen wird. Doch dann die Ansage 12 Stunden vor Start: „Alles wie geplant! Wir sehen uns heute Abend!“.

Also durchatmen. Rucksack packen. Gels sortieren. Nervosität im Zaum halten und vor allem: Zeit tot schlagen. So ein Tag mit Start am Abend ist ganz schön lange und zäh. Irgendwann war ich so verzweifelt, dass ich sogar wieder TikTok installiert habe, damit die Zeit schneller vergeht.

Trail oder Bach? Ein Unterschied ist meist nicht auszumachen

Pünktlich fällt der erlösende Startschuss. Erst geht es flach durchs Tal. Das Feld sortiert sich. Wie immer laufe ich irgendwo am Ende des vorderen Drittels. Dann der erste große Anstieg. Ich mache ein paar Positionen gut. Der Regen wird stärker. Ich finde meinen Rhythmus. Einige Stirnlampen im nächsten Anstieg zeigen, wie der weitere Streckenverlauf ist. Die Nacht ist so dunkel und schwarz, dass man außer den fünf Quadratmetern vor einem so gut wie nichts erkennen kann. Hinter mir eine lange Lichterkette, die durch den Nebel zieht. Das Gefühl ist gut, als es nach der ersten Verpflegungsstation ins Hochgebirge geht, aber ich friere leicht. Also lieber gleich Regenjacke an, bevor es 4 KM flach am Stausee entlang geht. Ich höre schnell auf, die Bäche zu zählen, die wir durchlaufen. Es ist inzwischen eh alles nass und es macht keinen Sinn, an jedem Gebirgsbach eine geeignete Stelle für die Überquerung zu suchen. Schneller und effizienter ist es, einfach durch zu stiefeln. Teilweise stehe ich knietief im Gletscherwasser und kämpfe mich durch fünf Meter breite Flüsse. Es ist so absurd, dass ich den Kopf schüttle.

Zum Glück hatte ich Ersatzstöcke eingepackt. (C) Wisthaler

Stockbruch. Mal wieder und viel zu früh

Es sind erst knapp 20 KM gelaufen, als beide Stöcke brechen. Gleichzeitig. Auf matschigen, durchweichten Trails rutsche ich weg und ich versuche mich mit den Stöcken auf den Beinen zu halten. Die Lekis halten diese Belastung nicht aus und knicken ein wie Streichhölzer. Fuck. Vor mir liegen mindestens noch 800 hm im Anstieg, bis ich mit Ersatz rechnen kann. Fuck. Überraschend schnell schaffe ich es, das im Kopf abzuhacken. Ich bin zwar tief frustriert - die Stöcke waren keine zwei Wochen alt und extra fürs Rennen gekauft - aber ist halt so. An der Situation lässt sich nichts ändern. Also stopfe ich das kaputte Paar so gut es geht in den Köcher und wechsle in den Hands-on-Knees Modus. Brutal anspruchsvoll geht es weiter. Mehr rutschen, stolpern, fallen, als laufen. Kurz an der Rudolsfhütte stoppen. Wasser auffüllen. Ich nehme mehr aus Reflex eine mir angebotene Suppe an und denke mir im nächsten Moment: „Gibt es etwa Besseres auf dieser Welt, als warme Suppe?“ Ich schütte zwei weitere Tassen hinterher. Als ich aus der Hütte stolpere und sofort im Nebel versinke, ist alle Wärme in Sekunden wieder weg. Am Pass auf über 2.500 Metern ist es unfassbar kalt. Der Wind peitscht und fetzt einem den Regen waagrecht ins Gesicht. Ich will nur noch runter. Je steiler und schneller, desto besser, auch wenn die Beine von der Kälte unangenehm steif sind. Im Tal wird’s ein bisschen besser. Der Regen und die überspülten Trails bleiben. Oft weiß man nicht, ob man sich noch auf dem Track befindet, oder versehentlich einem Bachlauf folgt. Kilometerlang steht das Wasser knöcheltief auf den Pfaden.

Tiefs kommen. Tiefs gehen. That’s ultra racing. (C) Philipp Reiter

Mit dem Tagesanbruch schlägt das erste Tief zu

In Kals ist Halbzeit. Ich treffe meine Eltern und Crew. Es ist kurz nach 4 Uhr morgens. Socken wechseln. Suppe. Neue Stöcke. Suppe. Weiter geht es mit dem nächsten Anstieg. Und es wird endlich hell. Wärmer wird es dadurch nicht. Das Muster wiederholt sich jetzt: oben am Berg friere ich mir den Arsch ab, im Tal geht’s. Die Landschaft ist wie erhofft episch. Vor dem Glocknerhaus versuche ich mich aus dem Tief zu ziehen, in das ich gefallen bin. Ich kämpfe mit Motivationsproblemen. Die Nacht und Kälte hat mir so zugesetzt - die inzwischen 60 KM in den Beinen tragen sicher auch ihren Teil dazu bei - dass es mir schwerfällt, die Downhills vernünftig zu joggen, oder auf den flachen Stücken einfach Kilometer gut zu machen. Jeden Anstieg muss ich hiken. Ich fühle mich langsam. Zudem überholen mich ständig Elite-Läufer des 60 KM Rennens, die erst vor ein paar Stunden gestartet sind. Frustrierend. Aber ich bewege mich und ich weiß, dass sich alles ändern wird. Am Glocknerhaus wartet meine Crew. Effizient fülle ich alles auf und mach mich auf den härtesten Abschnitt. Es geht zum höchsten Punkt des Rennens. Ganz oben kann ich meine Stöcke nicht einklappen. Finger zu kalt. Wahrscheinlich hat es keine 5 Grad. Unfassbar steil und weitestgehend weglos geht es auf der anderen Seite wieder ins Tal. Bei meiner Rennplanung hatte ich mir vorgenommen, hier stark zu laufen. Die Realität sah jetzt anders aus. Mit meinem direkten Konkurrenten auf der Ultra Distanz bin ich zwar noch zusammen am Joch angekommen, aber ich habe weder die Kraft noch den Willen, ihm im Downhill zu folgen und so kann er langsam aber stetig eine Lücke zwischen uns öffnen.

Epische Hohe Tauern. (C) Wisthaler

Plot-Twist im letzten Drittel: Was passiert hier gerade?

Nach über 10 Stunden hat es dann sogar kurz aufgehört zu regnen. Das letzte Streckendrittel ist wenig interessant. Es geht lange, monoton und weitestgehend auf Fahrwegen dem Talboden entlang. Um mich herum sind jetzt immer Läufer von anderen Rennen, was die Sache kurzweiliger macht. Dann der Plot-Twist an der letzten VP. Von hier sind es noch etwas über 10 KM bis ins Ziel. Von meiner Crew erfahre ich, dass der bis dahin Zweitplatzierte mit Krämpfen kämpft. Also nehme ich mir vor, nochmals alles in den letzten Uphill zu hauen. Es fängt wieder an zu regnen. Aber diesmal ist es meine Rettung. Der Schauer vertreibt die schwüle Luft und bringt meine Energie zurück. Plötzlich sehe ich die Läufer vor mir und das Rennen bekommt einen ganz neuen Charakter. Über Stunden hatte ich mich bereits mit dem 4. Platz abgefunden. Dies war mehr, als ich mir je erhofft hatte und meine körperliche Verfassung ließ nicht darauf schließen, dass ich nochmals die Power für einen Push haben würde. Und nun das. Ich sah, wie sowohl Platz 2 als auch Platz 3 am Limit waren.

Meine Suunto war zu diesem Zeitpunkt schon im Stromsparmodus und ich hatte nicht die Nerven, die Einstellung vorzunehmen, um nachschauen zu können, wie viele Höhenmeter oder wie viel Kilometer noch vor uns lagen. Aber es war mir auch egal. Selbst etwas überfordert von dieser plötzlichen Wendung gingen mir nur zwei Dinge durch den Kopf: “Now or never” und “Wenn du jetzt überholst, dann ohne zurückzuschauen und mit allem, was du hast!”. Also: Kopf runter. Jeden Schritt nochmals etwas länger ziehen. Nochmals vollen Druck auf die Stöcke geben. Kurz schaue ich in der Spitzkehre nach links und sehe, dass sich ein Abstand auftut. Die anderen können nicht folgen. Dann sind wir am Scheitelpunkt des letzten Anstiegs. Kein Blick zurück. Ich renne den Forstweg runter. Es sind jetzt schon mehr als hundert Kilometer. Ich überrasche mich selbst und laufe mehrere Kilometer im 4:20 Min/KM Schnitt. Das Adrenalin setzt ungeahnte Kräfte frei. Ich habe den Rennmoment meines Lebens.

Oft visualisiert, jetzt Realität: Zieleinlauf in Kaprun

Noch ein kurzer Gegenanstieg. Ich bin mir sicher: wenn ich bis da oben meine Position halten kann, dann überholt mich niemand mehr! In bester Nordic-Walking-Manier versuche ich die ansteigende Forststraße hinter mich zu bringen. Dann wage ich das erste Mal wirklich einen Blick zurück. Ich sehe niemanden. Was für eine Erleichterung. Die drei letzten Kilometer sind ein Rausch. Zum einen versuche ich weiter konzentriert zu bleiben, um mich jetzt bloß nicht auf die Fresse zu packen. Gleichzeitig kann ich aber einfach nicht fassen, was hier gerade passiert. Alles Mögliche geht mir durch den Kopf: die Jahre, das Training, dass mich zu diesem Moment gebracht hat, meine Crew, für die ich ja auch irgendwie laufe, diese irre Nacht, die hinter uns liegt und noch so viel mehr.

Daniel Keppler, 2. Platz

Wie oft hatte ich mir so einen Moment im Training vorgestellt?

Es dauert, aber irgendwann spuckt mich der Wald aus und ich erreiche den Ortsrand von Kaprun. Der Sprecher im Zielbereich ist schon deutlich zu hören. Ich drehe mich nochmals um. Immer noch niemand. Es kann nicht mehr weit sein. Jetzt bin ich mir wirklich sicher: Ich laufe das Ding auf dem zweiten Platz heim. Die langen Schritte auf der abfallenden Teerstraße Richtung Ortszentrum sind surreal schmerzfrei. Ich biege ums Eck, sehe die Zielgerade, juble, klatsche Hände ab und dann erlebe ich den Moment, den ich mir tatsächlich oft bem Training vorgestellt habe: Ich halte ein Zielbanner in den Händen und reiße meine Arme nach oben.

Fotografen. Kameras. Der Moderator. Ich schüttle Hände. Posiere. Aber im Grunde bin ich völlig überfordert. Es ist alles viel zu viel auf einmal. Der Großglockner Ultra Trail ist eine kleine Veranstaltung mit einem überschaubaren Zielbereich, doch fühlt es sich in diesem Moment extrem hektisch an. Nach einem kurzen Moment finde ich endlich meine Eltern und Julia und kann mich mit ihnen freuen. Ich glaube in diesem Moment konnten wir alle nicht so richtig fassen, was da eben passiert ist. Das Drama und die Positionsänderungen im letzten Abschnitt blieben vom Livestream weitestgehend unerfasst und so hatte niemand - am wenigsten ich selbst - damit gerechnet, dass ich mich noch von Platz vier auf Platz zwei verbessern kann.

Ein zweiter Platz, der sich nach so viel mehr anfühlt

Dieser zweite Platz fühlt sich für mich an, wie ein Sieg. Das Rennen hat alles geboten, was ich mir je erträumt hatte. Extreme Naturerfahrungen. Action. Momente des Zweifels und Triumphs. Der Kameradschaft und gegenseitiges Unterstützen. Teamwork. Selbstaufgabe und Comebacks. Könnte ich ein Skript für einen 100KM Lauf schreiben, dann würde sich dieses lesen wie der Großglockner Ultra Trail 2022. Es ist schwer zu sagen, ob ich in meiner bescheidenen Läuferkarriere noch einmal so einen Erfolg feiern darf. Und wenn nicht - wovon ich durchaus ausgehe - dann ist das ok. Ich habe alles erreicht, was ich mir jemals von diesem Sport erhofft haben.

Ich denke nicht, dass ich Trail Running wegen der Wettkämpfe liebe. Auch ohne den direkten Vergleich würde ich wahrscheinlich laufen gehen. Und doch - und das hat der Großglockner Ultra Trail wieder eindrücklich bewiesen - sind es Wettkämpfe, die die intensivsten und eindrücklichsten Running Erlebnissen schaffen. In diesen 15-16 Stunden ist mehr passiert, hab ich mehr „gespürt“, als in den letzten Monaten bei allen Runs zusammen. Es ist schwer zu beschreiben, aber kein Traingslauf, kein selbst organisiertes Abenteuer bringt dich auf das emotionale Level, wie ein Ultra Wettkampf.